Hexen, weise Frauen und Zauberinnen in den Märchen der Brüder Grimm

Die Brüder Grimm sammelten ab 1806 Volksmärchen, indem sie Märchen so aufzeichneten, wie sie erzählt wurden. Dabei ging es ihnen in erster Linie um den Erhalt des Kultur- und Sprachgutes. Erst in späteren Ausgaben ihrer gesammelten Märchen nahmen sie nach Auff orderung des Verlegers vereinzelt Veränderungen in den Texten vor, um einen besseren Verkaufserfolg zu erzielen.

Eine der letzten Hinrichtungen einer sogenannten Hexe fand 1793 in Südpreußen statt. Es ist davon auszugehen, dass die Hexenverfolgung noch im Bewusstsein der Bevölkerung präsent war, als die Grimms 13 Jahre später mit dem Märchensammeln begannen. Während im Rahmen der Hexenverfolgung jegliche zauberische/magische Handlung als Teufelswerk betrachtet wurde, gab es innerhalb der Bevölkerung durchaus eine differenzierte Einschätzung solchen Tuns. Betrachten wir die von den Brüdern Grimm gesammelten Volksmärchen als Überlieferung der Gedankenwelt unserer Vorfahren, begegnen uns verschiedene weibliche, des Zauberns kundige Figuren: die Hexe, die Zauberin und die weise Frau. Folgende Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (KHM).

Hexe

Die Hexe ist eine eindeutig böse Figur. Sie begegnet uns als Menschenfresserin par excellence im gut bekannten Märchen „Hänsel und Gretel“, aber auch bei „Fundevogel“ und „Lämmchen und Fischchen“. Eine Hexe verwünscht Menschen in einen Baum bzw. eine Taube (Die Alte im Walde), in einen Frosch (Froschkönig), ein Reh (Brüderchen und Schwesterchen) oder in Stein (Die Goldkinder). Sie trachtet nach dem Leben der Protagonist/innen, wie sie es auch als Giftmischerin in „Das Rätsel“ tut. Königskinder werden von ihr verbannt; der Königssohn in einen Eisenofen (Der Eisenofen), die Königstochter auf einen Glasberg (Der Trommler). Am meisten jedoch versteht sich die Hexe auf
Schadenszauber (Die sechs Schwäne, Der liebste Roland, Das blaue Licht, Die weiße und die schwarze Braut).

Obwohl wir alle scheinbar eine genaue Vorstellung davon haben, wie eine Märchenhexe auszusehen hat, ist nur bei „Hänsel und Gretel“ ein Satz über ihre Erscheinung zu finden:

„Die Hexen haben rothe Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben eine feine Witterung, wie die Thiere, und merkens wenn Menschen heran kommen.“ (KHM 15 | 1857)

Ansonsten hält sich das Märchen nicht mit Äußerlichkeiten auf. Die Hexe ist der negative Gegenpart zum Helden/zur Heldin. Im Fortgang des Märchens wird sie meist gezwungen, ihren Zauber rückgängig zu machen und am Ende wird die Hexe stets für ihr böses Tun durch Verbrennen, Ersäufen oder zu Tode tanzen bestraft und unschädlich gemacht.

Aber auch zu Unrecht der Hexerei bezichtigte Heldinnen kennt das Märchen. In den Märchen „Marienkind“ und „Die sechs Schwäne“ werden den Mädchen, einmal als Bestrafung für einen Tabubruch, einmal als Begleiterscheinung einer Erlösungsaufgabe, die Stimmen genommen. Beide Figuren geraten wegen ihrer Sprachlosigkeit in den Verdacht der Hexerei und können sich wegen eben dieser Sprachlosigkeit gegen die Hexereivorwürfe nicht verteidigen. Da das Volksmärchen in der Regel gut ausgeht, werden die Heldinnen im letzten Augenblick, schon auf dem brennenden Scheiterhaufen stehend, gerettet.

Weise Frau

Eine ganz andere Rolle kommt der weisen Frau im Märchen zu. Die weise Frau sorgt für die Neutralisierung des Hexenwerkes. Sie kennt die richtigen Segenssprüche um die Verwünschungen einer Hexe aufzulösen (Lämmchen und Fischchen, Der liebste Roland) und weiß Rat, wenn der Segensspruch allein nicht reicht, um gegen die Böswilligkeit der eigenen (Stief-)Familie anzukommen (Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein). Hilfreiche Zauberdinge, wie eine Garnrolle, die dem König den Weg durch den Wald zu seinen dort versteckten Kindern fi nden lässt, werden von weisen Frauen verschenkt (Die sechs Schwäne). Eine weise Frau wendet das Böse zum Guten, macht Hexenwerk unschädlich und kennt den Schlüssel des Problems. Ihre Funktion ist es, Rat zu geben, Sinn zu stiften und den Weg zu weisen.

Zauberin

Die Zauberinnen der Grimms Märchenhingegen sind Meisterinnen der Initiation: Sie haben die wichtige Aufgabe,jungen Menschen Wissen zu vermitteln und/oder sie in lebenswichtige Zusammenhänge einzuweihen. Vermutlich handelt es sich bei diesen Märchen um die Reste alter Übergangsrituale. Die Phasen des Überganges oder die Lehrzeitsind oft von bitteren Erfahrungen, schier unmenschlich anmutenden Aufgaben oder besonderen Herausforderungen geprägt. Die Zauberin im Märchen ist auf ihre Weise eine Hebamme ins Leben der Erwachsenen.

Während Mädchen eine Zeit lang abgeschieden bei der Zauberin leben (Die Gänsehirtin am Brunnen, Jorinde und Joringel) oder ausschließlich von ihr betreut werden (Rapunzel), gilt es bei den Jungen, sich von ihrer Mutter zu lösen (Die Kristallkugel), auf sich selbst zu vertrauen (Jorinde und Joringel) und seine Teamfähigkeit unter Beweis zu stellen (Die sechs Diener).

Die Rolle der Zauberin ist notwendig für die Entwicklung der Märchenheldin/des Märchenheldens und beschränkt sich auf eine zeitweise Begleitung.

 

Quelle:

Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen (1857)

Illustrationen von lebeusbi

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert